Nach intensiven Verhandlungen hat die Europäische Kommission am 23.12.2020 eine Einigung mit dem Vereinigten Königreich über die Modalitäten seiner künftigen Zusammenarbeit mit der Europäischen Union erzielt. Wir geben einen ersten Überblick über den 1246-seitigen Entwurf des Handels- und Kooperationsabkommens.
Das Handels- und Kooperationsabkommen deckt eine Reihe von Bereichen ab, die im Interesse der EU liegen. Es geht weit über die traditionellen Freihandelsabkommen hinaus und bildet eine Grundlage für den Erhalt der langjährigen Freundschaft und Zusammenarbeit. Es soll die Integrität des Binnenmarkts und die Unteilbarkeit der vier Freiheiten (Personen, Waren, Dienstleistungen und Kapital) sichern. Es spiegelt die Tatsache wider, dass das Vereinigte Königreich das Unionssystem gemeinsamer Regeln, Aufsichts- und Durchsetzungsmechanismen verlässt und somit nicht mehr in den Genuss der Vorteile der EU-Mitgliedschaft oder des Binnenmarkts kommen kann. Das Abkommen wird indessen keinesfalls den erheblichen Vorteilen entsprechen, die das Vereinigte Königreich als Mitgliedstaat der EU genossen hat.
1. Freihandelsabkommen
Das Abkommen erstreckt sich nicht nur auf den Handel mit Waren und Dienstleistungen, sondern auch auf eine ganze Reihe anderer Bereiche, die im Interesse der EU liegen, wie Investitionen, Wettbewerb, staatliche Beihilfen, Steuertransparenz, Luft- und Straßenverkehr, Energie und Nachhaltigkeit, Fischerei, Datenschutz und Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit. Es sieht Nullzollsätze und Nullkontingente für alle Waren vor, die den entsprechenden Ursprungsregeln genügen.
Beide Parteien haben sich verpflichtet, durch Aufrechterhaltung eines hohen Schutzniveaus in Bereichen wie Umweltschutz, Bekämpfung des Klimawandels und Kohlenstoffpreisgestaltung, Sozial- und Arbeitnehmerrechte, Steuertransparenz und staatliche Beihilfen solide und gleiche Wettbewerbsbedingungen zu gewährleisten. Dabei wird es eine wirksame innerstaatliche Durchsetzung und einen verbindlichen Streitbeilegungsmechanismus gehen und es wird für beide Parteien die Möglichkeit bestehen, Abhilfemaßnahmen zu ergreifen.
Die EU und das Vereinigte Königreich haben sich auf einen neuen Rahmen für die gemeinsame Bewirtschaftung der Fischbestände in den Gewässern der EU und des Vereinigten Königreichs geeinigt. Das Vereinigte Königreich wird in der Lage sein, seine Fischereitätigkeiten weiterzuentwickeln, und gleichzeitig werden die Tätigkeiten und Lebensgrundlagen der europäischen Fischereigemeinden geschützt und die natürlichen Ressourcen erhalten.
In Bezug auf den Verkehr sieht das Abkommen eine dauerhafte und nachhaltige Vernetzung in den Bereichen Luft-, Straßen-, Schienen- und Seeverkehr vor, wenn auch der Marktzugang hinter dem des Binnenmarkts zurückbleibt. Es enthält Bestimmungen, mit denen sichergestellt werden soll, dass im Wettbewerb zwischen Betreibern aus der Union und dem Vereinigten Königreich gleiche Wettbewerbsbedingungen gelten, sodass die Fahrgastrechte, Arbeitnehmerrechte und die Verkehrssicherheit nicht gefährdet werden.
Im Energiebereich bietet das Abkommen ein neues Modell für den Handel und die Verbundfähigkeit mit Garantien für einen offenen und fairen Wettbewerb, einschließlich Sicherheitsstandards für Offshore-Anlagen, und für die Erzeugung erneuerbarer Energien.
In Bezug auf die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit zielt das Abkommen darauf ab, eine Reihe von Rechten von EU-Bürgerinnen und Bürgern und britischen Staatsangehörigen zu gewährleisten. Dies betrifft Bürgerinnen und Bürger der EU, die im Vereinigten Königreich arbeiten bzw. dorthin reisen oder umziehen, sowie Staatsangehörige des Vereinigten Königreichs, die in der EU arbeiten bzw. dorthin reisen oder umziehen und gilt ab dem 1. Januar 2021.
Ferner ermöglicht das Abkommen die weitere Teilnahme des Vereinigten Königreichs an einer Reihe von EU-Leitprogrammen für den Zeitraum 2021-2027 wie etwa Horizont Europa (vorbehaltlich eines finanziellen Beitrags des Vereinigten Königreichs zum EU-Haushalt).
2. Sicherheitspolitik
Mit dem Abkommen über Handel und Zusammenarbeit wird ein neuer Rahmen für die Strafverfolgung und justizielle Zusammenarbeit in Straf- und Zivilsachen geschaffen. Es bestätigt die Notwendigkeit einer engen Zusammenarbeit zwischen den nationalen Polizei- und Justizbehörden, insbesondere bei der Bekämpfung und Verfolgung von grenzüberschreitender Kriminalität und Terrorismus. Es werden neue operative Kapazitäten geschaffen, wobei berücksichtigt wird, dass das Vereinigte Königreich als Nicht-EU-Mitglied außerhalb des Schengen-Raums nicht über dieselben Einrichtungen verfügen wird wie bisher. Die Zusammenarbeit im Sicherheitsbereich kann ausgesetzt werden, falls das Vereinigte Königreich seine Verpflichtung zur fortgesetzten Einhaltung der Europäischen Menschenrechtskonvention und ihrer innerstaatlichen Durchsetzung verletzt.
3. Mechanismen zur Durchsetzung des Abkommens
Um Unternehmen, Verbrauchern und Bürgern größtmögliche Rechtssicherheit zu bieten, wird in einem speziellen Kapitel über die Governance dargelegt, wie das Abkommen gehandhabt und kontrolliert wird. Ferner wird ein Gemeinsamer Partnerschaftsrat eingesetzt, der dafür sorgt, dass das Abkommen ordnungsgemäß angewandt und ausgelegt wird und in dem alle sich ergebenden Fragen erörtert werden.
Verbindliche Durchsetzungs- und Streitbeilegungsmechanismen sollen gewährleisten, dass die Rechte von Unternehmen, Verbrauchern und Einzelpersonen geachtet werden. Dies bedeutet, dass Unternehmen in der EU und im Vereinigten Königreich unter gleichen Wettbewerbsbedingungen miteinander konkurrieren und wird verhindern, dass jede Partei ihre Regulierungsautonomie nutzt, um unfaire Subventionen zu gewähren oder den Wettbewerb zu verzerren.
Beide Parteien können im Falle von Verstößen gegen das Abkommen sektorübergreifende Gegenmaßnahmen ergreifen. Dies gilt für alle Bereiche der Wirtschaftspartnerschaft.
4. Keine Zusammenarbeit bei Außen- und Sicherheitspolitik
Die Zusammenarbeit in den Bereichen Außenpolitik, äußere Sicherheit und Verteidigung fällt nicht unter das Abkommen, da das Vereinigte Königreich diese Frage nicht verhandeln wollte. Ab dem 1. Januar 2021 wird es daher keinen Rahmen zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU geben, um gemeinsame Reaktionen auf außenpolitische Herausforderungen zu entwickeln und zu koordinieren, beispielsweise die Verhängung von Sanktionen gegen Drittstaatsangehörige oder Volkswirtschaften.
5. Veränderungen im Jahr 2021
Selbst mit dem neuen Handels- und Kooperationsabkommen zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich wird es am 1. Januar 2021 zu großen Veränderungen kommen. An diesem Tag wird das Vereinigte Königreich aus dem EU-Binnenmarkt und der Zollunion sowie aus allen Politikbereichen der EU und aus internationalen Übereinkünften der EU ausscheiden. Der freie Personen-, Waren-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU wird enden. Die EU und das Vereinigte Königreich werden zwei getrennte Märkte bilden: zwei verschiedene Regulierungs- und Rechtsräume. Damit entstehen Hindernisse für den Handel mit Waren und Dienstleistungen sowie für die grenzüberschreitende Mobilität und den grenzüberschreitenden Austausch, die es heute – in beide Richtungen – nicht gibt.
Das Austrittsabkommen bleibt in Kraft und schützt unter anderem die Rechte der EU-Bürgerinnen und -Bürger und der britischen Staatsangehörigen, die finanziellen Interessen der EU und vor allem Frieden und Stabilität auf der irischen Insel. Die vollständige und zeitnahe Umsetzung dieses Abkommens war eine der wichtigsten Prioritäten der Europäischen Union. Dank intensiver Diskussionen zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich im Gemeinsamen Ausschuss und in den verschiedenen Sonderausschüssen wird das Austrittsabkommen – insbesondere das Protokoll zu Irland und Nordirland – am 1. Januar umgesetzt. Am 17. Dezember trat der Gemeinsame Ausschuss der EU und des Vereinigten Königreichs zusammen, um alle förmlichen Beschlüsse und anderen praktischen Lösungen im Zusammenhang mit der Umsetzung des Austrittsabkommens zu billigen. Angesichts dieser einvernehmlichen Lösungen wird das Vereinigte Königreich die strittigen Klauseln des britischen Binnenmarktgesetzes aufheben und keine vergleichbaren Bestimmungen in das Steuergesetz aufnehmen.
6. Die nächsten Schritte
Das Inkrafttreten des Handels- und Kooperationsabkommens ist eine besonders dringliche Angelegenheit. Das Vereinigte Königreich unterhält als ehemaliger Mitgliedstaat in einer Vielzahl wirtschaftlicher und anderer Bereiche umfangreiche Verbindungen zur Union. Wenn es nach dem 31. Dezember 2020 keinen geltenden Rahmen für die Beziehungen zwischen der Union und dem Vereinigten Königreich gibt, werden diese Beziehungen zum Nachteil von Einzelpersonen, Unternehmen und anderen Interessenträgern erheblich gestört. Die Verhandlungen konnten erst kurz vor Ablauf des Übergangszeitraums abgeschlossen werden. Durch den späten Abschluss sollte die demokratische Kontrolle, die das Europäische Parlament im Einklang mit den Verträgen auszuüben hat, nicht gefährdet werden. Angesichts dieser außergewöhnlichen Umstände schlägt die Kommission vor, das Abkommen für einen begrenzten Zeitraum bis zum 28. Februar 2021 vorläufig anzuwenden.
Die Kommission wird rasch Vorschläge für Beschlüsse des Rates über die Unterzeichnung und vorläufige Anwendung sowie über den Abschluss des Abkommens vorlegen.
Der Rat muss dann einstimmig mit allen 27 Mitgliedstaaten einen Beschluss erlassen, mit dem die Unterzeichnung des Abkommens und seine vorläufige Anwendung ab dem 1. Januar 2021 genehmigt werden. Sobald dieser Prozess abgeschlossen ist, kann das Handels- und Kooperationsabkommen zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich förmlich unterzeichnet werden.
Das Europäische Parlament wird dann natürlich um seine Zustimmung zu diesem Abkommen ersucht werden. Als letzten Schritt aufseiten der EU muss der Rat den Beschluss über den Abschluss des Abkommens annehmen.
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