Am 14.06.2018 hat der Deutsche Bundestag in einem Schnellverfahren das Gesetz zur Einführung einer zivilprozessualen Musterfeststellungsklage beschlossen. Die Einführung eines Musterfeststellungsklageverfahrens zur Stärkung der Rechte von Verbrauchern war bereits seit langer Zeit Gegenstand der politischen Diskussion. Vor dem Hintergrund des „VW-Abgasskandals“ sowie einer zum Ende des Jahres 2018 drohenden Verjährung hieraus folgender Ersatzansprüche hatte die aktuelle Regierungskoalition aus CDU, CSU und SPD die Einführung eines Musterfeststellungsklageverfahrens bis spätestens 01.11.2018 in ihrem Koalitionsvertrag festgeschrieben.
1. Ausgangslage
Das deutsche Zivilprozessrecht ist geprägt vom Grundsatz des Individualrechtsschutzes.
Wer zur Wahrung seiner Rechte gerichtliche Hilfe in Anspruch nehmen will, muss für sich selbst den Klageweg beschreiten. Eine vom konkreten Einzelfall losgelöste allgemeinverbindliche Klärung einer bestimmten Sach- und Rechtsfrage auf dem Zivilrechtsweg sieht die ZPO in ihrer bisherigen Fassung nicht vor.
Gerade im Hinblick auf einen effektiven Verbraucherschutz war diese Situation wenig befriedigend. Auch wenn durch Verfehlungen von Unternehmen viele Verbraucher Nachteile erlitten haben, musste bislang jeder von ihnen eigenständig gegen das Unternehmen vorgehen. Gerade bei nur geringfügigen Nachteilen dürfte ein Großteil der betroffenen Verbraucher hierauf – nicht zuletzt wegen des immensen Kostenrisikos einer Zivilklage – aber eher verzichtet haben.
Diese Situation hat auch der Gesetzgeber erkannt. Mit dem Unterlassungsklageverfahren nach dem UKlaG sowie dem Kapitalanlegermusterverfahren nach dem KapMuG wurden erstmals Verfahren geschaffen, mittels derer die Interessen einer Vielzahl von Verbrauchern gebündelt auf dem Rechtsweg verfolgt werden können. Der Anwendungsbereich dieser Verfahren ist allerdings beschränkt auf einige wenige Sonderfälle.
Mit dem in den §§ 606 ff. ZPO n. F. geregelten Musterfeststellungsklageverfahren existiert nunmehr ein allgemein anwendbares Verfahren, mittels dem bestimmte Sach- und Rechtsfragen für eine Vielzahl betroffener Verbraucher verbindlich auf dem Rechtsweg geklärt werden können.
2. Voraussetzungen des Musterfeststellungsklageverfahrens
2.1 Gegenstand der Musterfeststellungsklage
Mit der Musterfeststellungklage kann ausschließlich die Feststellung des Vorliegens oder Nichtvorliegens von tatsächlichen und rechtlichen Voraussetzungen für das Bestehen oder Nichtbestehen von Ansprüchen oder Rechtsverhältnissen zwischen Verbrauchern und einem Unternehmen begehrt werde.
2.2 Zuständigkeit
Die gerichtliche Zuständigkeit ist für das Musterfeststellungklageverfahren gesondert geregelt.
Sachlich zuständig für die Verhandlung und Entscheidung sind im Musterfeststellungklageverfahren in I. Instanz gemäß § 119 Abs. 3 S. 1 GVG n. F. die Oberlandesgerichte. Für Bundesländer mit mehreren Oberlandesgerichten eröffnet § 119 Abs. 3 S. 2 GVG n. F. die Möglichkeit einer Zuständigkeitskonzentrationen bei einem Oberlandesgericht mittels Rechtsverordnung.
Die örtliche Zuständigkeit für Musterfeststellungsklageverfahren bestimmt sich gemäß § 119 Abs. 3 S. 2 GVG nach dem allgemeinen Gerichtsstand des Beklagten, sofern sich dieser im Inland befindet.
2.3 Besondere Zulässigkeitsvoraussetzungen der Musterfeststellungsklage
Für die Musterfeststellungsklage regelt das Gesetz in § 606 Abs. 3 ZPO n. F. eine Reihe besonderer Zulässigkeitsvoraussetzungen.
Nach § 606 Abs. 3 Nr. 1 ZPO n. F. ist die Erhebung einer Musterfeststellungsklage zunächst einmal nur qualifizierten Einrichtungen im Sinne des § 606 Abs. 1 S. 2 ZPO n. F. vorbehalten. Dies sind Einrichtungen im Sinne von § 3 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 UKlaG, welche
- mindestens zehn Verbände, die im gleichen Aufgabenbereich tätig sind, oder alternativ mindestens 350 natürliche Personen als Mitglieder haben,
- seit mindestens vier Jahren in der Liste nach § 4 UKlaG oder dem entsprechenden Verzeichnis der Europäischen Kommission geführt werden,
- in Erfüllung ihrer satzungsmäßigen Aufgaben Verbraucherinteressen weitgehend durch nicht gewerbsmäßige aufklärende oder beratende Tätigkeiten wahrnehmen,
- Musterfeststellungsklagen nicht zum Zweck der Gewinnerzielung erheben und
- nicht mehr als 5 Prozent ihrer finanziellen Mittel durch Zuwendungen von Unternehmen beziehen.
Weiterhin muss nach § 606 Abs. 3 Nr. 1 ZPO n. F. bei Klageerhebung glaubhaft gemacht werden, dass von den Feststellungszielen die Ansprüche oder Rechtsverhältnisse von mindestens zehn Verbrauchern abhängig sind.
Schließlich fordert § 606 Abs. 3 Nr. 1 ZPO n. F. für die Zulässigkeit einer Musterfeststellungsklage, dass innerhalb von 2 Monaten nach ihrer öffentlichen Bekanntmachung mindestens 50 Verbraucher Ansprüche oder Rechtsverhältnisse zur Eintragung in das Klageregister wirksam anmelden.
3. Durchführung des Musterfeststellungsklageverfahrens
3.1 Einleitung des Musterfeststellungsklageverfahrens
Das Musterfeststellungsklageverfahren wird durch eine entsprechende Klage eingeleitet.
Neben den allgemeinen sich aus § 253 Abs. 2 ZPO ergebenden Voraussetzungen muss die Klageschrift zusätzlich den Anforderungen des § 606 Abs. 2 ZPO n. F. genügen. Konkret bedarf es Angaben und Nachweise darüber, dass die klagende Einrichtung den Anforderungen des § 606 Abs. 1 S. 2 ZPO n. F. genügt und von den Feststellungen die Ansprüche oder Rechtsverhältnisse von mindestens zehn Verbrauchern abhängig sind.
Ab Rechtshängigkeit der Musterfeststellungsklage kann gemäß § 610 Abs. 1 S. 1 ZPO n. F. keine andere Musterfeststellungsklage mehr gegen den Beklagten erhoben werden, soweit deren Feststellungsziele denselben zugrundeliegenden Lebenssachverhalt betreffen.
Die Erhebung einer Musterfeststellungsklage ist gemäß § 607 Abs. 2 ZPO n. F. binnen 14 Tagen in einem vom Bundesamt für Justiz geführten Klageregister bekannt zu machen.
3.2 Anmeldungen im Musterfeststellungsklageverfahren
Gemäß § 608 Abs. 1 ZPO n. F. können Verbraucher Ansprüche und Rechtsverhältnisse, die von den Feststellungszielen abhängen, noch bis zum Ablauf des Tages vor Beginn des ersten Termins zur Eintragung in das Klageregister anmelden.
Die Anmeldung von Ansprüchen und Rechtsverhältnissen zur Eintragung in das Klageregister hemmt nach § 204 Abs. 1 Nr. 1 a) BGB a. F. zunächst einmal deren Verjährung.
Während der Rechtshängigkeit einer Musterfeststellungsklage kann ein angemeldeter Verbraucher gemäß § 610 Abs. 2 ZPO n. F. keine Klage erheben, deren Streitgegenstand denselben Lebenssachverhalt und dieselben Feststellungsziele betriff wie die Musterfeststellungsklage. Hat ein Verbraucher eine derartige Klage bereits vor Bekanntmachung der Musterfeststellungsklage im Klageregister gegen den Beklagten erhoben und meldet er dann seinen Anspruch oder sein Rechtsverhältnis zum Klageregister an, setzt nach § 613 Abs. 2 ZPO n. F. das Gericht das Verfahren bis zur rechtskräftigen Entscheidung oder sonstigen Erledigung der Musterfeststellungsklage oder wirksamen Rücknahme der Anmeldung aus. Die Klagemöglichkeiten von Verbrauchern, die keine Ansprüche und Rechtsverhältnisse angemeldet haben, werden durch ein laufendes Musterfeststellungsklageverfahren indes nicht berührt.
Hat ein Verbraucher Ansprüchen und Rechtsverhältnissen zur Eintragung in das Klageregister angemeldet, ist eine Zurücknahme der Anmeldung gemäß § 608 Abs. 3 ZPO n. F. nur noch bis zum Ablauf des Tages vor Beginn des ersten Termins möglich.
4. Abschluss des Musterfeststellungsklageverfahrens
4.1 Beendigung durch Urteil
Gesetzlicher Regelfall der Beendigung eines Musterfeststellungsklageverfahrens ist ein Musterfeststellungsurteil. Dieses stellt das Vorliegen oder Nichtvorliegen der tatsächlichen und rechtlichen Voraussetzungen für das Bestehen oder Nichtbestehen von Ansprüchen oder Rechtsverhältnissen zwischen Verbrauchern und einem Unternehmen fest.
Gegen ein Musterfeststellungsurteil ist keine Berufung vorgesehen. Einzig statthafter Rechtsbehelf ist nach § 614 S. 1 ZPO n. F. die Revision zum Bundesgerichtshof, die gemäß § 614 S. 2 ZPO n. F. allerdings stets wegen grundsätzlicher Bedeutung der Sache zuzulassen ist.
Nach seiner Verkündung ist das Musterfeststellungsurteil gemäß § 612 Abs. 1 ZPO n. F. im Klageregister öffentlich bekannt zu machen. Entsprechendes gilt nach § 612 Abs. 2 ZPO n. F. für die Einlegung eines Rechtsmittels gegen das Musterfeststellungsurteil und für den Eintritt seiner Rechtskraft.
Einen vollsteckbaren Inhalt hat ein Musterfeststellungsurteil in der Hauptsache nicht. Die angemeldeten Verbraucher sind daher gehalten, im Anschluss an das Musterfeststellungsklageverfahren ihre individuellen Ansprüche gegen das beklagte Unternehmen mittels einer weiteren Leistungsklage geltend zu machen. Ein vorausgegangenes erfolgreiches Musterfeststellungsklageverfahren bringt aber den Vorteil, dass das zur Entscheidung eines Rechtsstreits zwischen einem angemeldeten Verbraucher und dem beklagten Unternehmen berufene Gericht nach § 613 Abs. 1 S. 1 ZPO n. F. an ein rechtskräftiges Musterfeststellungsurteil gebunden ist. Praktisch wird es im Rahmen der Leistungsklage eines angemeldeten Verbrauchers dann vielfach nur noch um die Anspruchshöhe gehen.
4.2 Beendigung durch Vergleich
Alternativ kann ein Musterfeststellungsklageverfahren nach § 611 Abs. 1 ZPO n. F. auch durch gerichtlichen Vergleich mit Wirkung für und gegen jeden angemeldeten Verbraucher beendet werden.
Eine Besonderheit besteht im Musterfeststellungsklageverfahren darin, dass der Vergleichsschluss zumindest teileweise der Parteidisposition entzogen ist. Gemäß § 611 Abs. 3 S. 1 ZPO n. F. bedarf der Vergleich der Genehmigung durch das Gericht. Diese ist nach § 611 Abs. 3 S. 2 ZPO n. F nur zu erteilen, wenn das Gericht den Vergleich unter Berücksichtigung des bisherigen Sach- und Streitstandes als angemessene gütliche Beilegung des Streits oder der Ungewissheit über die angemeldeten Ansprüche oder Rechtsverhältnisse erachtet.
Nach Genehmigung des Vergleichs durch das Gericht ist dieser den angemeldeten Verbrauchern gemäß § 611 Abs. 3 S. 1 ZPO a. F. förmlich zuzustellen. Jeder angemeldete Verbraucher hat nach § 611 Abs. 3 S. 2 ZPO n. F. die Möglichkeit, innerhalb eines Monats nach Zustellung seinen Austritt aus dem Vergleich zu erklären.
Sofern weniger als 30 Prozent der angemeldeten Verbraucher ihren Austritt aus dem Vergleich erklären, wird dieser gemäß § 611 Abs. 5 S. 1 ZPO n. F. wirksam. In diesem Fall stellt das Gericht Inhalt und Wirksamkeit des Vergleichs durch einen im Klageregister bekannt zu machenden Beschluss fest. Mit Bekanntmachung des Beschlusses wirkt der Vergleich gemäß § 611 Abs. 5 S. 4 ZPO n. F. für und gegen alle angemeldeten Verbraucher, die nicht ihren Austritt aus dem Vergleich erklärt haben.
5. Fazit
Auf den ersten Blick beutet die Einführung eines Musterfeststellungsklageverfahrens eine Stärkung der Rechte von Verbrauchern.
Betroffenen Verbraucher können allein durch Eintragung in das Klageregister mit einem relativ geringen Kostenaufwand den Ablauf der Verjährung ihrer Ansprüche hemmen und zumindest teilweise die Voraussetzungen für das Bestehen oder Nichtbestehen von Ansprüchen oder Rechtsverhältnissen verbindlich durch ein Gericht klären lassen. Gerade die mit der Einleitung eines Individualklageverfahrens verbundenen Kosten waren häufig der Grund dafür, dass Verbraucher auf eine Durchsetzung ihre Rechte verzichtet haben.
Dies darf allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Musterklageverfahren zumindest in seiner jetzigen Ausgestaltung im Detail noch erhebliche Schwächen hat. Zu nennen sind hier vor allem folgende Punkte:
Zunächst einmal ist die Einleitung eines Musterfeststellungsklageverfahrens der Disposition der betroffenen Verbraucher weiterstgehend entzogen. Diese sind vielmehr darauf angewiesen, dass eine qualifizierte Einrichtung, welche den von § 606 Abs. 1 S. 2 ZPO aufgestellten engen Anforderungen genügt, die Initiative ergreift. Damit besteht die Gefahr, dass das Musterfeststellungsklageverfahren auf einige wenige besonders öffentlichkeitswirksame Fälle beschränkt bleibt. Im Sinne eines effektiven Rechtsschutzes wäre es wünschenswert gewesen, hätte der Gesetzgerber auch für die Verbraucher selbst einen Weg geschaffen, ein Musterfeststellungsklageverfahren zu initiieren.
Weiterhin ist zu bedenken, dass auch nachteilige Entscheidungen für angemeldete Verbraucher bindend sind, obwohl sie den Gang des Klageverfahrens nicht weiter beeinflussen können. Besonders schwer wiegt dies in Verbindung mit der zeitlich eingeschränkten Möglichkeit, eine Anmeldung zum Klageregister zurückzunehmen. Die im ursprünglichen Regierungsentwurf enthaltene Regelung, wonach eine Anmeldung nur bis zum Ablauf des Tages vor Beginn des ersten Termins zurückgenommen werden konnte, wurde zwar nicht in die endgültige Gesetzesfassung übernommen. Allerdings erscheint auch die jetzige Regelung, die eine Rücknahme der Anmeldung bis zum Ablauf des Tages des Beginns der mündlichen Verhandlung gestattet, eher problematisch. Zunächst einmal wird kaum ein angemeldeter Verbraucher bei der mündlichen Verhandlung zugegen sein und dementsprechend am Tag ihres Beginns nicht besser informiert sein als am Tag zuvor. Darüber hinaus zeigt die Erfahrung, dass sich der Ausgang eines Klageverfahrens gerade bei komplexen Sachverhalten vielfach erst im weiteren Fortgang eines Rechtsstreits abzeichnet.
Außerdem ist zu befürchten, dass die Anmeldung von Ansprüchen und Rechtsverhältnissen im Musterfeststellungsklageverfahren deren endgültige Klärung in vielen Fällen erheblich verzögert. Um zu einem in der Hauptsache vollsteckbaren Urteil zu kommen, sind angemeldete Verbraucher im Regelfall gehalten, im Anschluss an ein Musterfeststellungsurteil ein weiteres Klageverfahren einzuleiten. Damit wäre dann auch der ursprüngliche Kostenvorteil des Musterfeststellungsklageverfahrens wieder kompensiert.
Völlig ungeklärt ist schließlich das Rechtsverhältnis zwischen angemeldeten Verbrauchern und der das Musterfeststellungsklageverfahren führenden qualifizierten Einrichtung. Relevant wird dies insbesondere im Hinblick auf eine Haftung wegen fehlerhafter Verfahrensführung. Eine vertragliche Rechtsbeziehung als Grundlage möglicher Ersatzansprüche dürfte sich im Verhältnis zwischen den im Klageregister angemeldeten Verbrauchern und der qualifizierten Einrichtung kaum begründen lassen. Bei einer Schädigung durch fehlerhafte Verfahrensführung könnten diese sich daher im Verhältnis zu der qualifizierten Einrichtung allenfalls auf deliktische Anspruchsgrundlagen berufen. Deren Voraussetzungen werden vielfach aber nicht vorliegen.
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