Im Insolvenzrecht ist der Begriff der „nahestehenden Person“ von zentraler Bedeutung, insbesondere im Kontext von Insolvenzanfechtungen. Eine neue Entscheidung des Bundesgerichtshofs (BGH) vom 22. Februar 2024 erweitert nun den Anwendungsbereich dieses Begriffs auf bisher kaum beachtete Konstellationen: Auch ein mittelbar beteiligter Verein kann als „nahestehende Person“ gelten. Dies ist insbesondere für die Praxis der Insolvenzanfechtung von Relevanz, da in diesen Fällen eine gesetzliche Vermutung für die Kenntnis der Zahlungsunfähigkeit greift.

Hintergrund der Entscheidung: Mittelbare Beteiligung eines Vereins

In dem vom BGH entschiedenen Fall ging es um einen Augenoptikerverein, der als alleiniger Gesellschafter der M. GmbH fungierte. Die M. GmbH war wiederum die alleinige Gesellschafterin einer insolventen Schuldnerin. Vor deren Insolvenz hatte die Schuldnerin wiederholt Gelder – zuletzt 146.400 Euro – von ihrem Geschäftskonto überwiesen. Der Insolvenzverwalter sah hierin eine anfechtbare Zahlung und verklagte den Verein auf Rückzahlung von 300.000 Euro. Entscheidend war, ob der Verein als „nahestehende Person“ im Sinne des Insolvenzrechts anzusehen war und somit die Vermutung der Kenntnis von der Zahlungsunfähigkeit der Schuldnerin zur Anwendung kommen konnte.

Rechtslage zur „nahestehenden Person“

Das Insolvenzrecht kennt in § 138 Abs. 2 InsO eine Regelung, die eine Vermutung der Zahlungsunfähigkeitskenntnis bei sogenannten nahestehenden Personen aufstellt. Für juristische Personen gilt als nahestehend, wer zu mehr als 25 Prozent am Kapital des Schuldners beteiligt ist. Die Insolvenzanfechtung nach den §§ 130 ff. InsO zielt darauf ab, Gläubigerungleichbehandlungen zu verhindern und dem Insolvenzverwalter Mittel zurückzuführen, die kurz vor der Insolvenz aus dem Vermögen des Schuldners abgeflossen sind.

Entscheidung des OLG Nürnberg

Das Oberlandesgericht (OLG) Nürnberg, das in der Vorinstanz mit dem Fall befasst war, sah den Verein nicht als „nahestehende Person“ an, da der Verein lediglich mittelbar über die M. GmbH an der insolventen Schuldnerin beteiligt war. Nach Ansicht des OLG sei § 138 Abs. 2 InsO auf solche mittelbaren Beteiligungen nicht anwendbar. Demzufolge fehle es an einer gesetzlichen Grundlage für die Vermutung der Kenntnis der Zahlungsunfähigkeit. Das Gericht verneinte daher die Anfechtbarkeit der Zahlungen.

BGH hebt Entscheidung des OLG auf

Der BGH war anderer Meinung und hob das Urteil des OLG Nürnberg auf. Nach Auffassung des BGH ist auch bei mittelbaren Beteiligungen eine Vermutung der Kenntnis der Zahlungsunfähigkeit gerechtfertigt, wenn die Beteiligung mehr als 25 Prozent beträgt. Dies ergebe sich aus der Analogie zu § 16 Abs. 4 AktG, der für die Bestimmung des Mehrheitsbesitzes von Anteilen auch mittelbare Beteiligungen berücksichtigt.

Im Detail führte der BGH aus, dass der Begriff der „nahestehenden Person“ nicht auf unmittelbare Beteiligungen beschränkt sei. Zwar enthalte § 138 Abs. 2 InsO keine ausdrückliche Regelung zur mittelbaren Beteiligung, jedoch müsse dies entsprechend dem Rechtsgedanken des § 16 Abs. 4 AktG berücksichtigt werden. Auch bei einer mittelbaren Beteiligung sei davon auszugehen, dass der beteiligte Gesellschafter über hinreichende Informationen zur finanziellen Lage der Schuldnerin verfüge. Dies gelte umso mehr, wenn – wie im vorliegenden Fall – die Beteiligung des Vereins an der Schuldnerin über eine 100-prozentige Tochtergesellschaft erfolge.

Bedeutung für die Praxis: Insolvenzanfechtung und Kapitalbeteiligung

Die Entscheidung des BGH erweitert den Kreis der „nahestehenden Personen“ im Sinne des Insolvenzrechts erheblich. Für Gläubiger, Insolvenzverwalter und Gesellschafter ergeben sich daraus folgende wesentliche Konsequenzen:

  • Erweiterung des Begriffs der „nahestehenden Person“: Der BGH hat klargestellt, dass nicht nur unmittelbare, sondern auch mittelbare Beteiligungen über Gesellschaftsstrukturen hinweg für die Anwendbarkeit der §§ 130, 138 InsO relevant sind. Dies bedeutet, dass auch Gesellschafter von Muttergesellschaften einer insolventen Tochtergesellschaft als „nahestehende Personen“ angesehen werden können.
  • Vermutung der Kenntnis der Zahlungsunfähigkeit: Mit der Einstufung als „nahestehende Person“ greift die gesetzliche Vermutung, dass der Gesellschafter von der finanziellen Schieflage der insolventen Gesellschaft Kenntnis hatte. Diese Vermutung zu widerlegen, dürfte in der Praxis schwer fallen, da es an direkten Beweisen fehlt, die eine Unkenntnis plausibel machen könnten.
  • Anfechtungsrisiken für Kapitalbeteiligte: Unternehmen und Vereine, die – sei es direkt oder mittelbar – an anderen Gesellschaften beteiligt sind, müssen sich über die Anfechtungsrisiken bewusst sein, die mit einer Insolvenz der Tochtergesellschaft verbunden sein können. Zahlungen, die vor der Insolvenz erfolgt sind, können auch dann angefochten werden, wenn sie über eine mittelbare Beteiligung an den Schuldner erfolgt sind.

Auswirkungen auf Vereine und Unternehmen

Für Unternehmen und insbesondere auch Vereine, die über Holding-Strukturen oder Tochtergesellschaften an anderen Gesellschaften beteiligt sind, ist die Entscheidung des BGH von erheblicher Bedeutung. Das Risiko, als „nahestehende Person“ eingestuft zu werden, steigt erheblich, wenn Beteiligungen von mehr als 25 Prozent – auch indirekt – gehalten werden. Dies betrifft nicht nur gewinnorientierte Unternehmen, sondern auch gemeinnützige Organisationen wie den im vorliegenden Fall beteiligten Verein. Solche Organisationen müssen künftig besonders darauf achten, ihre Beteiligungen und deren finanzielle Lage im Blick zu behalten.

Fazit

Der BGH hat mit seinem Urteil eine wichtige Klarstellung im Insolvenzrecht getroffen. Mittelbar beteiligte Gesellschafter, wie in diesem Fall ein Verein, können als „nahestehende Person“ im Sinne der §§ 130 ff. InsO gelten. Damit verbunden ist die Vermutung der Kenntnis über die finanzielle Situation der insolventen Gesellschaft, was die Anfechtung von Zahlungen erleichtert. Für Gesellschafter bedeutet dies, dass sie sich der Risiken bewusst sein müssen, die mit Beteiligungen an anderen Gesellschaften verbunden sind, selbst wenn diese Beteiligungen nur indirekt über Zwischengesellschaften bestehen.

Christian Krösch